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Wie sich junge Niederländerinnen von der Standardsprache verabschieden 1)


eerder verschenen in: Hans Beelen (Hrsg.), Niederländisch im Europa der Regionen. Ausgewählte Beiträge des Oldenburger Kolloquiums zum Niederländischunterricht,  Agenda Verlag, 2004, blz. 34-43
  

Ein niederländisches Sprichwort, das dem berühmten deutschen Dichter Heinrich Heine zugeschrieben wird, lautet etwa so: Wenn die Welt untergeht, so gehe ich in die Niederlande, dort geschieht alles fünfzig Jahre später als anderswo. Obwohl Heine nicht der Urheber ist, trifft die Aussage zumindest für die Phonologie durchaus zu. Denn im Niederländischen hat eine bestimmte Lautverschiebung nicht bloß fünfzig, sondern sogar über dreihundert Jahre später als anderswo begonnen, sie findet nämlich jetzt statt. Durch bloßes Zuhören niederländischer Radio- und Fernsehstationen können wir feststellen, dass diese Lautverschiebung unter unseren Augen (oder besser gesagt: Ohren) stattfindet.

In fast allen mir bekannten germanischen Sprachen und Dialekten haben sich die ursprünglich langen Monophthonge î und û zu offenen Diphthongen wie [ai] und []u] entwickelt. Diese Entwicklung ist in den meisten Werken zur Geschichte der englischen und der deutschen Sprache dokumentiert, wobei die mittleren Diphthonge [ei] und [œy] oft nicht einmal genannt werden. Dennoch besteht kein Zweifel, dass ein Zwischenstadium in Form des [ei] und des [œy] in beiden Sprachen existiert hat, selbst wenn sich dieser Zustand nicht lange gehalten hat. [ei] und [œy] haben immer bewiesen, sehr unstabil zu sein.

Im 16. Jahrhundert waren das [ai] und das []u] im Englischen und Deutschen schon Wirklichkeit: wiin war zu [wain] geworden und hoes zu [h]us]. Gleiches gilt für viele niederländische Dialekte. Während des 16. Jahrhunderts haben die Dialekte, die eine Diphthongierung von î und û aufweisen diesen Prozeß fortgesetzt, was im Englischen und Deutschen zu denselben Diphthongen, [ai] und []u] (oder []i]) führte.

Diese Tatsachen sind im Grunde genommen nicht sehr überraschend, denn Öffnung von Diphthongen ist in allen Sprachen der Welt eine ganz natürliche Entwicklung (Labov 1994). Gerade deshalb ist es umso erstaunlicher, dass die offizielle Aussprache des Niederländischen, der sogenannte ABN-Standard, immer noch die Mitteldiphthonge [ei] und [œy] aufweist.

ABN ist die Abkürzung für Algemeen Beschaafd Nederlands ("Allgemeines Zivilisiertes Niederländisch"). Die Bezeichnung ABN ist mit dem englischen Begriff der Received Pronunciation (RP) durchaus vergleichbar: eine Aussprache, die wenig oder keinerlei Aufschlüsse über die regionale Herkunft eines Sprechers gibt (O’Connor 1973, 128).

Die Realisierung des niederländischen [ei] kommt zunehmend dem englischen und deutschen aai nahe: die öfters zu hörende Aussprache der niederländischen Präposition bij [baùj] ähnelt dem deutschen bei, sowie auch der Vokal des Wortes raai ziemlich dem deutschen Reihe entsprichtt. Diese Verschiebung hängt mit der Artikulation zusammen. Das [ei] verlangt einen mehr geschlossenen Mund oder einen höheren Kiefer. Die hervorgerufenen akustischen Unterschiede sind beträchtlich, wie man der unterstehenden Abbildung entnehmen kann:

 Nach Abbildung 7-5 und 7-6 aus: A.C.M. Rietveld & V.J. van Heuven (1997), Algemene Fonetiek, Coutinho, Bussum (mit Dank an Vincent van Heuven für den Entwurf dieser Darstellung)

Die Abbildung zeigt die Frequenzen der zwei wichtigsten Formanten der Vokale; im linken Bild zeigen die Frequenzen der Formanten des Wortes bij, zwei schwarze Striche im unteren Teil, unmittelbar nach dem b, dass die Formanten nicht stabil, sondern dynamisch sind: während der gesamten Gestaltung des Diphtongs verändern und teilen sie sich. Phonetiker bezeichnen diesen Typus Diphthong als ‘wesentlichen’ Diphthong; dies trifft ebenfalls auf zwei andere Diphthonge zu, das [œy] in huis und das []u] in koud; sie besitzen ähnliche phonetische Eigenschaften wie das [ei].

Die Form der Formanten des aai in baai in der rechten Abbildung ist völlig unterschiedlich. Hier sehen wir, dass die zwei Striche nach dem b während der Ausführung des aa zunächst parallel bleiben; sie gehen erst nach dem aa auseinander, wenn der Halbvokal j beginnt. Damit ist deutlich, dass das aai in baai ein vollkommen anderer Klang als das [ei] ist: es ist vielmehr eine Kombination von aa und j, ein Aufeinanderfolgen zweier Vokale. Wenn wir den letzten Teil streichen, gibt es überhaupt keinen Diphthong. Das tiefere [ei] im Polderniederländischen wird von seinen phonetischen Eigenschaften her eher dem aai ähneln.

Es gibt zwei sprachinterne Gründe, die es verständlich machen, warum die Mitteldiphthonge in vielen Sprachen bereits früher offen geworden sind. Erstens die Sicht des Sprechers. Aus der Phonetik ist bekannt, dass offene Diphthonge einfacher artikulierbar sind, weil sie keine sorgfältige Aussprache benötigen: man öffnet den Mund und das aai und aau sind sozusagen da. Doch so verhält es sich mit den ABN-Diphthongen nicht. Für Nichtmuttersprachler, die lernen, Niederländisch zu sprechen, sind sie die schwersten niederländischen Vokale. Normalerweise sind sie die letzten Spuren, woran man erkennen kann, dass ein Sprecher kein Muttersprachler ist.

Vom Standpunkt des Zuhörers aus gesehen gibt es ebenfalls einen intrinsischen Grund, offene Diphthonge vorzuziehen: ein offener Diphthong ist lauter, denn der Mund ist weit offen, so dass man den Laut besser hören kann. (Deshalb ist auch davon auszugehen, dass die am meisten geöffneten Diphthonge von Sängern niederländischer Schlager produziert werden.) Beide Faktoren, die offene Diphthonge begünstigen, machen die Tatsache, dass das ABN seine Mitteldiphthonge über so lange Zeit behalten hat, besonders bemerkenswert. Dahinter muss ein sehr starker Faktor stecken. Und so ist es in der Tat.

Im selben Zeitraum, als sich die Lautverschiebung im Englischen und Deutschen und ebenso in den Dialekten der niederländischen Provinzen Nord- und Südholland (im 16. Jahrhundert) vollzog, gab es in den Niederlanden eine Bewegung zum Aufbau und zur Etablierung einer Sprache, die für die künftige unabhängige Republik der Niederlande als landesweite Sprache fungieren könnte. Schriftsteller, Linguisten, Lehrer und andere führende Persönlichkeiten wurden für die Auswahl und Kultivierung der Elemente der Nationalsprache (das spätere ABN) herangezogen. Diese Elemente wurden vorrangig den Dialekten und der Sprache gebildeter Bewohner der Provinzen Hollands entnommen. In Bezug auf die Diphthonge herrschte die ziemlich allgemeine Meinung, dass die Diphthonge, so wie sie in den ländlichen Dialekten Hollands ausgesprochen wurden, inakzeptabel waren, denn sie hörten sich zu grässlich an. Deshalb beschlossen die Lehrer, Schriftsteller und alle anderen wichtigen Bürger, sich an [ei] und [œy] zu halten.

Der Einfluss dieser "Sprachlehrer" war so tief greifend und das Ansehen der durch sie geschaffenen Sprache (oder der Respekt vor den Personen, die diese Variante verwendeten) so groß, dass die mittleren Diphthonge ei, ui und ou über Jahrhunderte überleben konnten und sich nicht änderten. Bis in die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist es so geblieben. Dann änderte sich die Gesellschaft in radikaler Art und Weise, wie es in den meisten westlichen Gesellschaften der Fall war. Regeln und Traditionen entfielen. Je älter die Regeln, desto heftiger waren die Reaktionen gegen sie.

Auch das Standard-ABN, die Aussprache des Niederländischen, das an Schulen unterrichtet wurde und somit die Norm des gesprochenen Niederländisch, begann, sein Ansehen zu verlieren und fungierte nicht länger als Modell. So wurde es endlich für die drei wichtigen Diphthonge möglich, offen zu werden. Nicht die Öffnung an sich ist überraschend, da es eine natürliche Verschiebung ist, vielmehr ist das Bemerkenswerte die lange Verzögerung über mehr als drei Jahrhunderte.

Verschiebung langer Vokale und Diphthonge im ABN:

 Die Abbildung zeigt, dass die Öffnung der ABN-Diphthonge dem Great Vowel Shift (GVS) des Englischen sehr ähnlich ist. Wie der GVS ist die niederländische Vokalverschiebung eine komplexe Kettenreaktion. Im linken Teil des Vokaldreiecks, das dem vorderen Teil des Mundes entspricht, wird der Diphthong [ei] geöffnet und erreicht die Stellung des [ai]. Die Stelle des ursprünglichen [ei] ist durch die Öffnung und Diphthongisierung des langen Monophthongs [e:] ersetzt worden.

Gleiches geschieht mit den anderen beiden Diphthongen [œy] und []u]. Die Öffnung des [œy] gibt dem [ø:] Raum, ebenfalls offen zu werden. Auch der dritte Diphthong, []u], der eine andere Vorgeschichte hat als die beiden anderen, beteiligt sich an dieser Entwicklung: Öffnung des []u], ermöglicht [o:], sich ebenfalls zu öffnen. Wenn man der niederländischen Sprache zuhört, ist vor allem die Verschiebung des [ei], mehr als die der anderen beiden Diphthonge, auffällig. Hierfür gibt es zwei Gründe. Erstens kommt der Diphthong [ei] häufiger als die beiden anderen vor. Zweitens ist die Verschiebung des [ei] mit Hinblick auf seine akustischen Eigenschaften grundlegender.

Es existieren klare Hinweise, dass die Verschiebung der Diphthonge früher stattgefunden hat und drastischer war als die der langen Monophthonge über ihnen. Daher scheint es plausibel und erforschenswert, dass es sich bei der Verschiebung um eine Art Kettenreaktion handelt. Und noch einmal muss betont werden, dass nicht die Verschiebung an sich außergewöhnlich ist, sondern vielmehr ihre extrem lange Verzögerung.

Überraschend ist auch folgendes: Unter Soziolinguisten ist die Ansicht weit verbreitet, dass es die Frauen sind, die vielfach eine Sprachvariante benutzen, die der Sprachnorm näher kommt als die Sprachvariante der Männer. Frauen sind sich des sozialen Stellenwerts sprachlicher Varianten bewusster als Männer.

Unterschiedliche Untersuchungen haben gezeigt, dass dies auch in den Niederlanden der Fall war. Zurzeit scheint sich aber eine vollkommen andere Entwicklung zu ereignen. Die allererste Gruppe von Sprechern, bei denen offene Diphthonge registriert wurden, waren Frauen der gehobenen Mittelschicht, die zwischen dreißig und vierzig Jahren alt waren, mit Berufen wie Schriftstellerin, Wissenschaftlerin, Politikerin, Regisseurin, Professorin usw. Sie leben über die gesamten Niederlande verteilt. Sie sind ehrgeizig, streben eine Karriere an oder haben bereits eine hinter sich. Viele von ihnen bezeichnen sich als feministisch. Unter den Männern der gleichen sozialen Gruppierung gab es keinen, bei dem dieselben offenen Diphthonge festgestellt wurden.

Zum ersten Mal werden wir also mit einer Sprachänderung konfrontiert, die sich von der ABN-Norm entfernt und die bei gut ausgebildeten Frauen in den siebziger Jahren angefangen hat. Weil das Polderniederländisch sich allmählich, Schritt für Schritt in der gesamten Bevölkerung verbreitet, kann man sagen: Je jünger die Generation, desto mehr spricht sie Polderniederländisch. Für Kinder von unter zehn Jahren, Jungen wie Mädchen, sind offene Diphthonge die Norm. Eltern, die selber ABN sprechen, sind sehr besorgt, wenn sie ihre Kinder auf diese Art "polderen" hören. Aber alle ihre Anstrengungen, die aai’s ihrer Kinder in ei’s zu verändern, sind vergeblich. Für die Eltern ist dies schwer zu verkraften, denn in den Niederlanden haben diese offenen niederländischen Klänge auf ABN-Sprecher einen ähnlichen Effekt wie ihn Engländer empfänden, wenn Königin Elizabeth in Cockney English in Heathrow nach gaait number foif (‘Gate number 5’) fragen würde.

In unserer allerersten empirischen Untersuchung haben wir die Hypothese geprüft, dass gut ausgebildete Frauen im Gegensatz zu Männern offene Diphthonge benutzen. Wir erstellten Aufnahmen einer bekannten anspruchsvollen Fernsehsendung im Dritten Kanal, Het blauwe licht genannt. In dieser Sendung diskutieren vier Personen auf kritische Art und Weise über aktuelle Fernsehsendungen. Zwei Mitglieder der Runde wechseln jedes Mal, das sind die so genannten Gäste. Im Jahr 1998 waren diese Gäste zufälligerweise immer ein Mann und eine Frau, beide aus der gehobenen Mittelschicht.

Eine Studierende, die von Dr. Renée van Bezooijen (Universität Nimwegen) betreut wird, Frau Edelman, hat die ersten fünfzehn Realisierungen der drei Diphthonge von jedem der insgesamt zwölf Gäste transkribiert. Diese Daten wurden, was den ersten Diphthong angeht, mit Sprechdaten von drei Männern und drei Frauen aus einer Radionachrichtensendung ergänzt. Insgesamt testeten wir also achtzehn Sprecher: neun Frauen und neun Männer.

Durchschnittswerte der Diphtongrealisierung

Gäste der TV-Sendung ‘Het blauwe licht’

                                               
[
ei]     []u]     [œy]     gesamt

Dana Nechustan                     1,1      1,0      0,9         1,0
Adriaan van Dis                       0,0      0,2      0,1         0,1

Annemarie Mol                        1,1      1,0      1,0         1,0
Paul Witteman                        0,3       0,3      0,6         0,4

Rosita Steenbeek                    0,0      0,0      0,0         0,0
Bastiaan Bommeljé                  0,4      0,0      0,0         0,1

Maria Henneman                     0,3       0,9      0,0         0,4
Chris Keulemans                     0,4       0,4      0,0         0,3

Patty Brard                             0,4        0,2      0,9         0,5
Arnoud Holleman                    0,2        1,0      0,7         0,6

Dana Linssen                         0,4         1,0      0,6         0,7
Gerardjan Rijnders                 0,0         0,0      0,0         0,0

(Roberta Alexander                0,8         1,4      0,5         0,9)

Presentatoren Radio-1-nieuwsberichten

                                   [ei]
Ineke Moerman           0,5

Govert van Brakel       0,4

Suzanne Bosman        0,6

Dick Klees                    0,3

Clairy Polak                 0,6

Menno Rehmeijer        0,5

Index

[ei] = 0     [e.i] = 1      [æi]= 2      [ai] = 3

[]u]= 0    [].u] = 1    [ou]= 2     [au] = 3

[œy]= 0  [œ.y] = 1   [œu]= 2    [Au] = 3

Wie aus dem Index hervorgeht, wurden die einzelnen Realisierungen vier Stufen zugeordnet. Wenn ein Diphthong der ABN-Norm entsprach, erhielt er eine 0, der am weitesten geöffnete Laut aai erhielt eine 3; die zwei Zwischenstufen werden als 1 und 2 bezeichnet. Nach dem Namen folgen die individuellen Durchschnittswerte für die drei einzelnen Diphtonge, die vierte Spalte enthält den Gesamtdurchschnittswert. Je höher der Wert, desto offener ist der Diphthong. Ein erster Blick auf Spalte 4 lässt erkennen, dass bei den meisten Paaren (allerdings nicht immer) die Frau die höheren Werte, d.h. die am meisten geöffneten Diphthonge aufweist.

Bemerkenswert sind die Werte von Roberta Alexander. Sie ist eine berühmte Sängerin amerikanischer Herkunft, die bereits mehrere Jahre in den Niederlanden lebt und ausgezeichnet Niederländisch spricht, wenn auch mit einem unverwechselbaren amerikanischem Akzent. Dennoch sind ihre Diphthonge nicht so offen wie die von zwei niederländischen Muttersprachlerinnen, Dana Nechustan und Annemarie Mol. In diesem Punkt spricht Roberta Alexander also ABN-gemäßer als die zwei niederländischen Frauen. Weil sie keine Muttersprachlerin ist, haben wir ihre Werte jedoch nicht einbezogen.

  

Um die Signifikanz der Unterschiede der Durchschnittswerte in Bezug auf die drei Variablen und auf die Gesamtwerte zu testen, haben wir einen t-Test für Paarproben durchgeführt. Für [ei] basierte der Test auf 9 Paarwerten, für die restlichen Gruppen auf 6. Die Ergebnisse werden oben aufgelistet. Ein einseitiger (one-tailed) Test wurde durchgeführt, weil unsere Hypothese einseitig ausgerichtet war: wir nahmen an, dass die weiblichen Sprecher höhere Werte aufweisen würden als die männlichen Sprecher. Zu erkennen ist, dass die statistische Signifikanz bei [ei] und insgesamt auf dem 5%-Niveau, bei [œy] sogar auf dem 3%-Niveau liegt, wobei die Durchschnittswerte die erwartete Tendenz aufzeigen. Wir sehen tatsächlich höhere Werte, d.h. offenere Realisierungen bei den weiblichen Sprechern.

Dies bedeutet, dass wir unsere Hypothese aufrechterhalten können. Selbstverständlich werden wir unsere Untersuchungen um umfangreichere und stärker variierte Versuchsgruppen erweitern. Doch bis hierhin dürfen wir schlussfolgern, dass Frauen der gehobenen Mittelschicht offenere Diphthonge benutzen als Männer aus derselben Schicht. Anders gesagt, niederländische Frauen aus der gehobenen Mittelschicht ergreifen die Initiative beim Sprechen einer Variante des Niederländischen, die sich von der ABN-Norm entfernt. Dies steht in auffälligem Gegensatz zum Sprechverhalten von früheren Generationen. Damals ließ sich feststellen, dass gerade Männer aus der unteren Schicht sich zunehmend von der ABN-Norm distanzierten. Somit steht die Entwicklung des modernen Niederländisch in einem doppelten Gegensatz zu der früheren Situation: Frauen der gehobenen Mittelklasse spielen nun die Rolle, die einst Männer der unteren Gesellschaftsschicht hatten.

Aber warum tun dies einzig und allein die Frauen dieser Schicht? Selbstverständlich hängt das mit der Stellung der Frau in unserer Gesellschaft zusammen. Die Frauen, die bereits in der Vergangenheit ein Bewusstsein für die soziale Bedeutung sprachlicher Varianten zeigten, erkennen nun als erste, dass die Standardsprache in unserer egalitären Gesellschaft an Prestige eingebüßt hat. Hinzu kommt, dass die Frauen, die diese offenen Diphthonge anwenden, gute Stellen und wichtige Positionen innehaben; von der neuen wirtschaftlichen und sozialen Lage profitieren sie an meisten. Und deshalb brauchen sie das ABN nicht, um Status zu erlangen.

Dies erklärt vielleicht dieses geschlechtsspezifische sprachliche Verhalten. Sobald Regeln und Traditionen untergraben oder außer Kraft gesetzt werden, neigen die Gruppen, die diese Regeln am meisten eingehalten haben, dazu, extremer zu reagieren als andere. Allgemein gilt: je größer die vorherige Unterdrückung, desto heftiger die darauf folgende Reaktion. Dies gilt auch für die Reaktion auf eine Aussprachenorm. Ein zusätzlicher Faktor bei vielen dieser Frauen ist die feministische Orientierung, die für ihr zunehmendes Selbstbewusstsein verantwortlich ist.

Ich habe diese geöffnete Variante des Niederländischen Poldernederlands genannt. ‘Polder’ ist dem Kompositum poldermodel entnommen, der bekannten Bezeichnung für das Wirtschaftsmodell der Niederlande, das auf dem Konsens aller Gesprächspartner basiert. Es ist unumstritten, dass dieses Poldermodell unserem Land großen Wohlstand eingebracht hat. Doch zugleich ändert dieser wirtschaftliche Erfolg unsere Gesellschaft in mancher Hinsicht weniger positiv. Die sozialen Errungenschaften der sechziger und siebziger Jahre wurden zum Teil rückgängig gemacht. Ein anderes Ergebnis dieses Wirtschaftsmodells ist das Poldernederlands. Diese Bezeichnung ist, das versteht sich, nicht ohne Ironie.

Es gibt noch viel zu untersuchen, denn viele Aspekte spielen mit, etwa die Geschichte der feministischen Bewegung in den Niederlanden. Auch die phonetischen und phonologischen Erscheinungen müssen berücksichtigt werden. Vielleicht existiert auch eine Art lexikaler Verbreitung. Eine real time-Untersuchung ist geplant. Diese erscheint machbar, weil viele dieser Frauen früher im Radio gesprochen haben und ihre Reden und Interviews auf Tonband gespeichert wurden. Auch eine klassische soziolinguistische Untersuchung zu Sprachstilen und Registern wird durchgeführt werden, um nachzuweisen, ob sich zurzeit tatsächlich eine Änderung vollzieht. Es wäre ebenfalls sehr interessant, herauszufinden, ob die Öffnung der Diphthonge wirklich, wie ich annehme, eine sprachliche Änderung von oben, oder vielleicht von unten ist.

Seit 1999 wurde in verschiedenen Publikationen über neue Untersuchungen zum Polderniederländisch berichtet. Zunächst haben Renée van Bezooijen und ihre Kollegen Perzeptionsuntersuchungen durchgeführt. Tonaufnahmen mit verschiedenen Arten Allgemein-Niederländisch wurden acht Hörergruppen zur Beurteilung vorgespielt: älteren Männern, älteren Frauen sowie jungen Frauen aus zwei Regionen, aus den westlichen und den östlichen Niederlanden. Van Bezooijen und Van der Berg (2001) zeigen, dass junge Frauen dem Polderniederländisch positiver gegenüber stehen als andere Sprachgebraucher. Sie betrachten das Polderniederländisch als dem ABN gleichwertig, auch wenn sie es selbst sprechen. Die geographische Herkunft ist hierbei unerheblich.

Aus phonetischen Untersuchungen zur gesprochenen Sprache von Männern und Frauen der gehobenen Mittelschicht durch Van Heuven u.a. (2002) geht u.a. hervor, dass die Artikulationsstelle des Diphtongs [Ei] im Polderniederländisch nahezu dem tiefen [a] entspricht. Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die tiefe Variante des [Ei] bei Frauen viel häufiger als bei Männern vorkommt.

Diese beiden Untersuchungen geben Anlass zu der Erwartung, dass das Polderniederländisch das Allgemein-Niederländisch der Zukunft ist. Frauen werden in dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle spielen.. Ob sich diese Erwartung erfüllen wird, könnte aus der vor kurzem in Angriff genommenen Promotionsuntersuchung von Irene Jacobi hervorgehen.

Zum Schluss halten wir fest, dass Heinrich Heine (oder wer auch immer es gewesen sein mag) zum Teil recht hatte. In den Niederlanden vollzieht sich die Öffnung der mittleren Diphthonge tatsächlich sehr viel später als anderswo; andererseits nimmt die niederländische Gesellschaft in der Entwicklung zu einer fortschrittlichen egalitäreren Gesellschaft eine Spitzenposition ein, so dass gut ausgebildete Frauen der gehobenen Mittelschicht es sich leisten können, sich von sprachlichen Varianten zu distanzieren, deren Gebrauch früher eine Prestigefrage war.

Literatur
Renée van Bezooijen und Rob van den Berg: Who power Polder Dutch? A perceptual-sociolinguistic study of a new variety of Dutch. In: Ton van der Wouden und Hans Broekhuis (Hrsg.): Linguistics in the Netherlands 2001. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, S.1-12.

Renée van Bezooijen: Poldernederlands; hoe kijken vrouwen ertegenaan? In: Nederlandse Taalkunde 6 (2001), S. 257-271.

Brouwer, D., Gender variation in Dutch. A sociolinguistic study of Amsterdam speech, Dordrecht 1989.

Loulou Edelman: Het Poldernederlands: een vrouwentaal? Een sociolinguïstisch onderzoek; onderzoeksverslag Katholieke Universiteit Nijmegen, 19 augustus 1999; begeleiding: prof. dr. Wilhelm H. Vieregge en dr. Renée van Bezooijen. Nijmegen 1999.

Vincent J. van Heuven, Loulou Edelman, Renée van Bezooijen: The pronunciation of [Ei] by male and female speakers of avant-garde Dutch. In: Hans Broekhuis und Paula Fikkert (Hrsg.): Linguistics in the Netherlands 2002. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, S. 61-72.

Labov, W., Principles of Linguistic Change. Volume 1: Internal Factors, Oxford 1994.

O’Connor, J.D., Phonetics, Middlesex 1973.

Jan Stroop: Young Women's Farewell to Standard Dutch, paper Conference on Methods in Dialectology, 1-6 augustus 1999, St.John's, Newfoundland, Canada.

Jan Stroop, Poldernederlands; waardoor het ABN verdwijnt, Amsterdam Bert Bakker, 1998.

Jan Stroop, 'Wordt het Poldernederlands model?'; lezing tijdens het Taal en Tongval-symposium, 12 december 1997, te Gent; gepubliceerd in Taal en Tongval, themanummer 10 (1997): Standaardisering in Noord en Zuid, blz. 10-29.

Website: die meisten hier genannten Aufsätze sowie Tonfragmente findet man im Internet:

http:// cf.hum.uva.nl/poldernederlands/index.html

1) Überarbeitete und erweiterte Fassung von Jan Stroop: Young Women' Farewell to Standard Dutch, Paper Conference on Methods in Dialectology, 1.-6. August 1999, St. John's, Newfoundland, Canada,
Übersetzung ins Deutsche: Frank Schmidt und Hans Beelen. Der englischsprachige Text wurde im Internet veröffentlicht unter www.hum.uva.nl/poldernederlands.

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